WIRTSCHAFTSWACHSTUM UND DAS HAMSTERRAD – EINE PSYCHOLOGISCHE PERSPEKTIVE

Als Laufbahnberater erlebe ich immer wieder Personen, die ihre Situation als Hamsterrad beschreiben und sagen, dass sie trotz viel Einkommen und Status nicht zufrieden sind. Ihr beruflicher Erfolg geht einher mit viel Stress und Belastung, nicht nur für sie selbst, sondern auch für ihr Umfeld. Dennoch entscheiden sich viele, im Hamsterrad weiterzurennen. Daraus resultieren Kosten für Besuche bei Psycholog*innen, Ärzt*innen, Sozialarbeiter*innen oder eben beim Laufbahnberater. Fehlzeiten, Klinikaufenthalte, Medikamente und Krankenkassenprämien verursachen weitere Kosten und „belasten“ das Gesundheits- und Sozialsystem. Doch genau diese Kosten sind aus ökonomischer Perspektive wünschenswert. Denn sie tragen zum Bruttosozialprodukt und dadurch zum Wirtschaftswachstum bei. In diesem Blogbeitrag möchte ich aufzeigen, was aus psychologischer Sicht falsch läuft in einem System, in welchem systematisch Verhaltensweisen incentiviert werden, die entgegen der menschlichen Bedürfnis- und Motivstruktur wirken.

Das gesellschaftliche Narrativ des ewigen Wirtschaftswachstums

Wirtschaftswachstum hat für viele auf dieser Welt zu mehr Wohlstand geführt. Das gilt es zu respektieren. Aber der wirtschaftliche Druck, wachsen zu müssen, ist für eine gelingende Gesellschaft mit zufriedenen Bürger*innen nicht nur positiv zu werten. Es ist ein gesellschaftliches Narrativ, das trotz vieler Nachteile für Mensch und Umwelt hartnäckig aufrechterhalten wird.

Ein kapitalistisches Wirtschaftssystem ist auf Gedeih und Verderb von Wirtschaftswachstum abhängig. So lautet das vorherrschende gesellschaftliche Narrativ, dem nur wenige widersprechen und das von den „Regierungen des globalen Nordens“ mit großem finanziellem Aufwand durchgepeitscht wird. Dabei werden übermässig viele fossile Ressourcen verbraucht und bis heute ist es eine Wette mit offenem Ausgang, ob es „grünes Wachstum“ – also Wirtschaftswachstum ohne übermässigen Verbrauch fossiler Ressourcen – jemals geben wird oder ob wir vielmehr einem klimatischen Kollaps entgegengehen. Gemäß des Narrativs des ewigen Wirtschaftswachstums, das allen mehr Wohlstand bringen soll, kollabieren Volkswirtschaften, wenn sie über einen längeren Zeitraum schrumpfen. Im Gegensatz dazu ist es im biblischen Narrativ der sieben fetten Jahre, denen sieben magere folgen, völlig normal, dass sich Wachstum und Schrumpfen abwechseln. Während der mageren Jahre schnallen die Menschen ihren Gürtel enger, auch wenn es unangenehm ist. Mit Blick auf die fossilen Ressourcen und die durch deren Verbrennung entstehende Umweltbelastung wäre es dringend notwendig, dass sich die Erde vom ewigen Wachstum „erholen“ könnte.

Dasselbe gilt für die psychischen Ressourcen. Auch sie werden von Wachstumsnarrativ gebeutelten und sind erholungsbedürftig. Der kapitalistische Wettbewerb zwischen Regionen, Ländern und Menschen wird unerbitterlich geführt. Dabei wird der Wohlstand ungleich über die Weltregionen verteilt und auch innerhalb von kapitalistischen Gesellschaften nehmen die Einkommens- und Vermögensungleichheiten wieder zu – wie von Thomas Piketty beschrieben. Wer im Wettbewerb verliert, ist zunehmend mit einer prekären Lebenssituation konfrontiert, die eine gesellschaftliche Teilhabe nur noch am Rande zulässt. Aber auch die Gewinner*innen können sich nicht ausruhen. Sie müssen sich immer wieder neu beweisen und sind deshalb ebenfalls übermässigem Stress ausgesetzt. Michael Sandel hat das in seinem Buch „The tyranny of merit. What’s become of the common good?“ anschaulich ausgeführt. Wirtschaftswachstum verschwendet also nicht nur fossile, sondern auch psychische Ressourcen.

Gesellschaftliche Narrative beeinflussen das menschliche Erleben und Handeln

Gesellschaftliche Narrative können sich auf jede gesellschaftlich relevante Frage beziehen, vom Stellenwert der Religionen über die Definition von Erfolg im Beruf bis hin zur Frage, ob eine Volkswirtschaft wachsen muss oder nicht. Sie müssen weder an einer Urne noch durch wissenschaftliche Evidenz legitimiert werden. Vielmehr sind gesellschaftliche Narrative Ausdruck eines Zeitgeistes, der die Werthaltungen, Ziele, Meinungen sowie Funktionsprinzipien einer Gesellschaft „erzählt“. Dadurch haben sie einen Einfluss auf die mediale Berichterstattung und natürlich auch auf politische Aushandlungsprozesse. Während heute Katalysatoren für Verbrennungsmotoren, das Frauenstimmrecht sowie die die 5-Tage-Woche wahrscheinlich die allermeisten nicht mehr missen möchten, war der Zeitgeist in der Schweiz in diesen Fragen noch bis ins letzte Jahrhundert ein anderer.      

Als soziale Wesen beziehen wir unser Erleben und Handeln auf andere Menschen, mit denen wir in der Familie, der Arbeitswelt sowie über die sozialen oder „traditionellen“ Medien zu tun haben. Über diesen sozialen Austausch werden auch die gesellschaftlichen Narrative transportiert. Das geschieht sowohl explizit (bewusst) als auch implizit (eher unbewusst). In kapitalistischen Gesellschaften steht das Narrativ des ewigen Wirtschaftswachstums von klein auf mehr oder weniger unhinterfragt „im Raum“. Es treibt Jung und Alt dazu an, nach „mehr“ zu streben. Die erwähnten Gewinner*innen dieses kapitalistischen Wettlaufs schildern ihre Situation in der Beratung dann wie folgt:

„Mit meinem aktuellen Einkommen kann ich meine Bedürfnisse (und diejenigen meiner Familie) zwar gut abdecken, aber ich möchte noch mehr verdienen und richte meine beruflichen Entscheidungen auch darauf aus. Dabei bin ich mir dessen bewusst, dass mich mehr Geld nicht glücklicher machen wird.“

Für viele stellt das Abwägen zwischen möglichst viel Einkommen und der Zufriedenheit im Leben ein Spannungsfeld dar, dessen sie sich bewusst sind. Manche Prozesse laufen aber auch unbewusst ab. So kann es sein, dass jemand findet, dass unser Wirtschaftssystem zu viele Ressourcen verschwendet und eigentlich schrumpfen müsste, sie oder er beim Lohn aber dennoch keinen Stillstand und schon gar keinen Rückschritt in Kauf nehmen möchte.

In der Beratung ist es erkenntnisreich, solche potenziellen Spannungsfelder zu erkennen, ihnen möglichst wertneutral zu begegnen und nach Möglichkeit einen Umgang damit zu finden. Dabei spielen psychologische Grundlagen eine wichtige Rolle.

Ein psychologisches Modell

Die Psychologie beschäftigt sich mit dem Beschreiben und Erklären des menschlichen Erlebens und Handelns. Dabei können drei nach unterschiedlichen Prinzipien funktionierende Ebenen der Persönlichkeit unterschieden werden. Die Ebenen sowie die drei Funktionsprinzipien sind in der unten aufgeführten Tabelle gemäß dem Modell der Persönlichkeits- und Identitätskonstruktion (MPI) aufgeführt. Ich habe das Modell auf der Basis von aktuellen psychologischen Theorien und mit dem Ziel, es in der Beratung nutzen zu können, entwickelt. Auf der oberen Ebene sind die sozialen Narrative einer Person angesiedelt. Sie beinhalten stimmige „Erzählungen“, die auf dem individuellen Erfahrungshintergrund einer Person basieren und den roten Faden einer Biografie ausmachen. Soziale Narrative verbinden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer Person. Dadurch stehen sie gleichermaßen für die Kontinuität einer Person wie auch für deren Entwicklung. Die „Erzählungen“ sind eingebettet in den sozialen Kontext der Person. Zu diesem sozialen Kontext gehören auch die gesellschaftlichen Narrative – also der bereits erwähnte Zeitgeist – genauso wie die sozialen Narrative anderer Personen aus dem unmittelbaren Umfeld. Auf der Ebene der sozialen Narrative funktionieren Personen nach psychologischen Prinzipien, gemäß derer das menschliche Erleben und Handeln einzigartig ist und nur beschränkt durch allgemeingültige Prinzipien abgebildet werden kann. Personen versuchen, sich erfolgreich in ihrem sozialen Kontext zurecht zu finden und dabei Sinn und Bedeutung zu erfahren. Sinn und Bedeutung werden dabei als Ausdruck sozialer Interaktions- und Konstruktionsprozesse verstanden und dadurch kontinuierlich mit der relevanten Umwelt abgeglichen und bei Bedarf angepasst.   

Gesellschaftliche Narrative, also der Zeitgeist einer Gesellschaft, beeinflussen und prägen die sozialen Narrative einer Person. Weil diese Prozesse sowohl bewusst als auch unbewusst ablaufen, ist es in Beratungsprozessen für Klient*innen (und Beratungspersonen) wichtig, die eigenen sozialen Narrative (Was ist für mich persönlich sinnstiftend?) von den gesellschaftlichen Narrativen (Was ist gesellschaftlich erstrebenswert?) zu unterscheiden.

In die sozialen Narrative einer Person sind auch die beiden weiteren Ebenen eingebettet, nämlich die mittlere Ebene der subjektiven Ziele und die untere Ebene der objektiven „Fakten“. Die subjektiven Ziele bringen zum Ausdruck, welche Bedürfnisse und Motive für eine Person wichtig sind und daraus abgeleitet auch, welche Kompetenzen die Person entwickelt, um ihre Ziele zu erreichen. Auf der Ebene der subjektiven Ziele funktionieren Personen nach biologischen Prinzipien, gemäß derer sie nach ihren inneren Antreibern (z. B. nach Selbstentfaltung oder Fortpflanzung) handeln und versuchen, ihre Ziele zu erreichen. Das geschieht, indem permanent Rückmeldungen aus der Umwelt aufgenommen und Anpassungen, unter Umständen auch Zielanpassungen, initiiert werden (zyklische Kausalität).

Zu den objektiven „Fakten“ werden Persönlichkeitseigenschaften und Werte gezählt. Eigenschaften und Werte gelten als vergleichsweise stabil und kommen deshalb im täglichen Handeln einer Person relativ gut zum Ausdruck. Dieses Handeln ist von „außen“ beobachtbar, weshalb auch von objektiven „Fakten“ gesprochen wird. Auf dieser Ebene funktionieren Personen mindestens teilweise nach physikalischen Prinzipien, gemäß derer sie sich analog zu einer Maschine in gleichen Situationen tendenziell auch immer wieder gleich verhalten (lineare Kausalität). Aber trotz des stabilen Charakters von Eigenschaften und Werten findet auch auf der Ebene der objektiven „Fakten“ Entwicklung statt. Zudem ist das Handeln einer Person nicht nur von ihren Eigenschaften und Werten abhängig, sondern auch von den beiden anderen soeben beschriebenen Ebenen der Persönlichkeit sowie von situativen Gegebenheiten.

Ebenen der Persönlichkeit gemäß dem Modell der Persönlichkeits- und Identitätskonstruktion (MPI)Funktionsprinzip
Soziale Narrative
„Erzählung“, die für das erfolgreiche Erleben und Handeln einer Person innerhalb ihres sozialen Kontextes steht. In die Erzählung werden die Ziele der Person sowie objektive „Fakten“ über die Person genauso eingebettet wie gesellschaftliche Prägungen und Narrative.
Mensch (Psychologie)
Subjektive Ziele
Bedürfnisse, Motive und Kompetenzen, die das Erleben und Handeln sowie die Ziele einer Person bewusst oder unbewusst beeinflussen und die für eine kohärente Entwicklung stehen.
Organismus (Biologie; zyklische Kausalität)
Objektive „Fakten“
Relativ stabile Eigenschaften und Werte, die im Handeln einer Person beobachtet werden können. Sie werden aufgrund ihrer Beobachtbarkeit auch als objektive „Fakten“ bezeichnet.
Maschine (Physik; lineare Kausalität)

Im Folgenden werde ich die mittlere Ebene der subjektiven Ziele in den Vordergrund rücken und anhand des Zürcher Modells der sozialen Motivation aufzeigen, wie durch das Narrativ des ewigen Wirtschaftswachstums die menschliche Bedürfnisbefriedigung aushebelt wird.

Menschliche Motivstruktur

Psychologische Motivmodelle bilden auf der Ebene der subjektiven Ziele ab, was Menschen antreibt und welche Bedürfnisse sie dabei zu befriedigen versuchen. Es lohnt sich, menschliches Erleben und Handeln und dadurch auch Entscheidungen, die die Arbeitswelt oder das Kaufverhalten betreffen, auf der Basis von Modellen zu reflektieren, die innerhalb der Psychologie verankert sind. Das Zürcher Modell der sozialen Motivation von Norbert Bischof ist ein solches Modell. Es unterscheidet zwischen drei Motivsystemen, die auf alle Lebensbereiche bezogen werden können:

  1. Sicherheitssystem: Jede Person sucht Sicherheit im Sinne von Vertrautheit und Bindung (vertraute Leute, vertraute berufliche Tätigkeiten und Umwelten, …). Dabei spielt das Bedürfnis nach Bindung, das je nach Person unterschiedlich ausgeprägt ist, eine zentrale Rolle.
  2. Erregungssystem: Jede Person sucht Erregung im Sinne von Fremdheit (neue Leute kennenlernen, neue berufliche Tätigkeiten explorieren, …). Dabei spielt das Bedürfnis nach Unternehmungslust, das je nach Person unterschiedlich ausgeprägt ist, eine zentrale Rolle.
  3. Autonomiesystem: Jede Person sucht Autonomie im Sinne von Eigenständigkeit innerhalb ihres sozialen Umfeldes. Aus dem Autonomiesystem lassen sich vier Bedürfnisse ableiten, in denen sich Personen ebenfalls unterscheiden:
    • Macht (Verantwortung übernehmen wollen)
    • Geltung (im Mittelpunkt stehen wollen)
    • Leistung (Leistung erbringen wollen)
    • Freies Selbstsein (sich frei von äußeren Einflüssen entfalten wollen)

Als Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels der drei Motivsysteme kann das subjektive Wohlbefinden, also die Zufriedenheit einer Person, als Indikator für die Erfüllung der verschiedenen Bedürfnisse betrachtet werden. Kann ein Bedürfnis, beispielsweise nach Geltung oder Macht, nicht zufriedengestellt werden, so versuchen wir, einen Umgang damit zu finden. In der Psychologie spricht man von Copingstilen. Mit dieser Bezeichnung wird zum Ausdruck gebracht, dass wir mit der herausfordernden Situation copen („sie bewältigen“). Jede*r kennt das Gefühl: Bei den einen ist es ein Stellenverlust, der dazu führt, sich beruflich neu auszurichten und bei den anderen ist es die beim Einkauf vergessene Hafermilch, die dazu führt, den Morgenkaffee ohne Hafermilch zu genießen, den Kaffee gleich ganz wegzulassen oder nochmals einkaufen zu gehen. Anpassung und bei Bedarf auch Verzicht gehören für uns zum Tagesalltag.

Die kurze Schilderung der drei Motivsysteme mit den insgesamt sechs Bedürfnissen könnte vermuten lassen, dass sich daraus ein natürlicher Drang in Richtung von „immer mehr“ Bindung, Unternehmungslust sowie Leistung, Macht, Geltung und Freies Selbstsein ergibt. Das ist aber nicht der Fall, weil jedes einzelne Bedürfnis auch übererfüllt sein kann. Ist das beispielsweise beim Machtbedürfnis der Fall, so strebt die entsprechende Person nach weniger Verantwortung. Wird ihr dennoch mehr Verantwortung zuteil, so meidet sie diese und strebt andere Ziele an. Dadurch bringt sie das Machtbedürfnis wieder ins Lot und ein anderes Bedürfnis, beispielsweise sich frei von äußeren Einflüssen entfalten zu wollen (Freies Selbstsein), kommt in den neuen Zielen „automatisch“ stärker zum Tragen.

Jedes einzelne Bedürfnis wird permanent mit der relevanten Umwelt (Arbeit, Familie, Freizeit, …) abgeglichen und ausbalanciert. Darin zeigt sich das Funktionsprinzip der zyklischen Kausalität von lebenden Organismen (Biologie). Der Abgleich der Bedürfnisbefriedigung findet über weite Strecken unbewusst und unter Einbezug von Intuition und Routine statt. In gewissen Situationen (z. B. bei einem Stellenwechsel oder bei anderen wichtigen Entscheidungen im Leben) tun wir jedoch gut daran, innezuhalten und eine bewusste Auslegeordnung zu machen. Dabei ist es hilfreich, sich zu fragen, welche Bedürfnisse wichtig sind und in welchen Lebensbereichen sie Berücksichtigung finden.

Gesellschaftliche Narrative können menschliche Motive aushebeln

Eine Gesellschaft, die dem Narrativ des ewigen Wirtschaftswachstums folgt, orientiert sich nicht an der menschlichen Bedürfnis- und Motivstruktur, sondern am Bedarf einer wachsenden Volkswirtschaft. Dabei wird der Mensch primär als Konsument*in von möglichst vielen Gütern und Dienstleistungen betrachtet. Befriedigte Bedürfnisse, insbesondere wenn es um das Bedürfnis nach Macht im Sinne von „Aufstieg in der Hierarchie und mehr Lohn“ geht, würden den zunehmenden Konsum von Gütern und Dienstleistungen in Frage stellen. 

Deswegen wird das menschliche Erleben und Handeln über bewusste und unbewusste Anreize (z. B. Gesundheitssystem, Finanzmärkte oder auch direkte und indirekte Marketingmassnahmen) von der Bedürfnisbefriedigung entkoppelt. 

Diese Entkopplung ist eine notwendige Bedingung für eine kontinuierlich wachsende Volkswirtschaft. Wäre das nämlich nicht der Fall, so hätten wir irgendwann genug vom Konsum von Gütern und Dienstleistungen und wir würden uns der Befriedigung weniger konsumorientieren Bedürfnisse zuwenden.

Wenn Personen in der Beratung von ihrem „goldenen Käfig“ oder „Hamsterrad“ sprechen, so meinen sie genau diese Entkopplung zwischen der menschlichen Bedürfnis- und Motivstruktur auf der einen Seite und ihrem Handeln auf der anderen Seite. Das Handeln wird nicht durch die eigenen Bedürfnisse und Motive getrieben, sondern durch das gesellschaftliche Narrativ des ewigen Wachstums. Einige verlassen ihr Hamsterrad zwar und machen sich auf den Weg, ein neues, für sie stimmigeres Narrativ zu entwickeln und umzusetzen. Viele entscheiden sich aber dafür, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen, oft verbunden mit der ernüchternden Erkenntnis sowie einem unguten Gefühl, dass sie dadurch zwar reicher, aber nicht zufriedener werden.

Der unheilvolle Einfluss der hier skizzierten Bedürfnisweckungsgesellschaft, die sich primär am Bedarf eines nach Wachstum strebenden Wirtschaftssystems orientiert, sollte breiter diskutiert und hinterfragt werden. Mit großen finanziellen Aufwendungen und trotz der Gefahr eines klimatischen Kollapses wird das nach Wachstum strebende System „um jeden Preis“ aufrechterhalten. Regierungen wirken dabei nicht als Überwacherinnen der Spielregeln, sondern – unabhängig von der Parteifarbe – als proaktive Akteur*innen im Sinne der Aufrechterhaltung der Bedürfnisweckungsgesellschaft. Dabei wird mehr oder weniger explizit zu „immer mehr“ aufgerufen und als logische Folge wird dabei die automatisch eintretende Bedürfnisbefriedigung ausgehebelt.

Zu behaupten, Wirtschaftswachstum sei eine Folge der menschlichen Bedürfnis- und Motivstruktur, ist deshalb verkehrt. Vielmehr muss diese dafür ausgehebelt werden. Das individuelle Handeln ist zwar weiterhin selbstgewählt, aber es wird, wie bei einer Drogensucht, durch die Verfügbarkeit von Suchtmitteln angetrieben. Und genau diese Drogensucht stellt einen zentralen Pfeiler für das Narrativ des ewigen Wirtschaftswachstums dar.

Dass ein solches System für viele mit einem unguten Gefühl oder gar mit grosser Unzufriedenheit einhergeht, ist ein Ausdruck dieses offensichtlichen Spannungsfeldes zwischen dem gesellschaftlichen Narrativ und der menschlichen Bedürfnis- und Motivstruktur. Das Spannungsfeld besteht darin, dass das „Übererfüllt-Sein“ menschlicher Bedürfnisse zum Normalzustand erklärt wird. Anstatt diesen Missstand als solchen zu benennen, wird in der ökonomischen Theoriebildung als Erklärung für das menschliche Handeln das Bild des Menschen als „Homo Ökonomikus“ bemüht. Dabei wird davon ausgegangen, dass Menschen in der Regel nach Eigennutz streben und dass sie dabei rational handeln. Wenn der Einfachheit halber das rationale Handeln – analog zum Bruttosozialprodukt – auf den finanziellen Nutzen eingeschränkt wird, so bietet das Menschenbild des „Homo Ökonomikus“ eine vermeintlich perfekte Erklärung dafür, warum viele ihr Hamsterrad nicht verlassen. 

Ein solches Vorgehen stülpt ökonomische Gesetzmässigkeiten, die meist einer linearen Logik folgen und nach objektiven „Fakten“ streben, über die Psychologischen. Lineare Gesetzmässigkeiten können die Komplexität der menschlichen Bedürfnis- und Motivstruktur jedoch nicht abbilden. Deswegen eignen sie sie sich auch nicht dafür, menschliches Erleben und Handeln zu erklären. 

Ausblick: Narrativ einer gelingenden Gesellschaft

Die Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum passt zwar zum Narrativ des ewigen Wirtschaftswachstums. Aber es führt zum übermässigen Verschleiss von fossilen und psychischen Ressourcen und widerspricht dabei der menschlichen Bedürfnis- und Motivstruktur. Deswegen braucht es für die Zukunft neue Narrative für eine gelingende Gesellschaft. Die dafür nötigen Grundlagen aus den einzelnen Disziplinen wie Ökonomie, Klimawissenschaften, Psychologie etc. sind vorhanden. Jetzt geht es darum, diese zusammenzuführen und daraus etwas „Neues“ entstehen zu lassen. Zu diesem Zweck sollten sich inter- und transdisziplinäre Gruppen mit „diversen“ Teilnehmenden daranmachen, neue, gesellschaftlich erstrebenswerte Narrative zu entwickeln. Diese sollten sich an einer aufblühenden Gesellschaft mit Menschen, die ein gelingendes Leben führen, orientieren (und nicht „nur“ am Wirtschaftswachstum).  

Quellen

Bischof, N. (1985). Das Rätsel Ödipus. Piper. http://www.bischof.com/norbert_raetsel_oedipus.html

Piketty, T. (2022). Eine kurze Geschichte der Gleichheit. C.H.Beck.

Sandel, M. J. (2020). The tyranny of merit. What’s become of the common good? Allen Lane.

Schreiber, M. (Hrsg.). (2022). Narrative Ansätze in Beratung und Coaching. Das Modell der Persönlichkeits- und Identitätskonstruktion (MPI) in der Praxis. Springer Wiesbaden. https://doi.org/https://doi.org/10.1007/978-3-658-37951-3

Schreiber, M. (2022). Gesellschaftliche Narrative als Auslöser persönlicher Krisen? Eine Auslegeordnung anhand des Modells der Persönlichkeits- und Identitätskonstruktion (MPI). Dvb Forum, 2, 4–13. https://t.co/XCOLaKAHHE 
 

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Beitrag Vitamin P – Psychologie für die Laufbahn vom 7. Mai 2024: